Wir leben in einer wilden Zeit

Der Siegeszug der Konsolenspiele aus den Kinderzimmern ins Wohnzimmer hat gerade erst begonnen. Spielen wird zum Alltag. Videospiele werden zum Event.

Von Henry Krasemann

Immerhin war bald Wochenende. Dass er als Wachmann des örtlichen Shopping-Centers an diesem nass-kalten Freitag schon vor sechs Uhr morgens seinen Dienst antreten musste, schien an seinen Nerven gezerrt zu haben. Das alles nur wegen eines Spielzeugs, damit die Kinder noch vor Schulbeginn ihr vorzeitiges Weihnachtsgeschenk selber kaufen konnten.
Im Forum www.areagames.de wird überliefert, dass der Wachmann daraufhin lautstark das Wanken seines Weltbildes beklagt habe. Überwiegend Erwachsene standen dort an diesem frühen Morgen gesittet in Reih und Glied an der Kasse von EB Games. Es war der 02.12.2005, der Tag, an dem die Microsoft Xbox 360 in Europa zum ersten Mal öffentlich verkauft wurde.

Als 1977 das Atari Video Computer System („Das super Telespiel für jeden Fernseher“) auf den Markt kam, war die Welt noch in Ordnung. Nicht nur, dass sich die Angabe zu den technischen Besonderheiten dieser ersten kommerziell wirklich erfolgreichen Spielkonsole auf „Super Farbe – Super Sound – Super Unterhaltung“ beschränkte und der Joystick noch Steuerknüppel hieß. Insbesondere waren überwiegend Bilder von lachenden (Klein-) Kindern auf der Schachtel aufgedruckt. Die Abbildungen von älteren spielenden Erwachsenen wirkten albern und waren wohl vor allem zur Belustigung der Käufer gedacht. Schließlich mussten die Eltern zahlen. Jugendliche und Twens zwischen 16 und 29 schienen gar nicht zur Zielgruppe zu gehören.
Heutige HDTV-Auflösungen bei Konsolen der neuen Generation haben nichts mehr mit den damals revolutionären 160*200 Punkten Auflösung gemein. Viele aktuelle Armbanduhren und die meisten Handydisplays haben mehr. Doch von solchen Äußerlichkeiten abgesehen, hat sich vor allem eines in den letzten 25 Jahren geändert: der Nutzerkreis.
Die meisten Erwachsenen kaufen Konsolen inzwischen für sich und machen sich nicht mehr die Mühe, eigene Kinder vorzuschieben. Bei Preisen um die 400€, wie sie die neue Xbox 360 in der einzig zu empfehlenden Premium Version bei ihrem Verkaufsstart kostete, dürfte auch kaum ein Jugendlicher in der Lage, dieses mal so eben nebenbei vor Weihnachten auszugeben. Dass der empfohlene Verkaufspreis für Spiele bei 69,- € liegt, fällt da kaum ins Gewicht. Den noch aktuelle, aber schon vier Jahre alten Gamecube von Nintendo erhält man im Vergleich schon für 89,-€ - inklusive Spiel. Die Beiträge in einschlägigen Foren, in denen willige XBox-Käufer über ihre Erfolge und Misserfolge bei der Beschaffung an diesem Tag berichteten, sind gespickt mit Hinweisen auf eingereichten Urlaub, Anstehens schon in der Tiefgarage und des hoffnungsfrohen Vorausschauens auf den Feierabend. Schulschwänzen und aufmüpfige Eltern kommen nur vereinzelt vor.

Noch die Spielmaschinen von Nintendo und Sony hatten Ende der 90er Jahre Kinder und Jugendliche als die eigentliche Zielgruppe ausgemacht. Gamboy, NES und Playstation zeichneten sich vor allem durch Spiele aus, die Extreme bedienten. Extreme Knuffigkeit bei den Nintendo Figuren rund um den Klempner Mario. Extreme Sammelleidenschaft bei den Pokemons und extreme Gewalt bei Dead Or Alive Prügelspielen. Extreme sprechen vor allem junge Menschen an. Ältere sind da konservativer. Sie bevorzugen die kurze Entspannung zwischendurch. Oder die Geselligkeit.
Mit dem beginnenden 21. Jahrhundert begannen die Anbieter diese Bedürfnisse systematisch zu befriedigen. Myst, Eye Toy und Sing Star verdanken ihren Erfolg den erwachsenen Gelegenheitsspielern. Neue Videospiel-Magazine wie Gee, ple: oder Edge haben sich gerade diese als Zielgruppe ausgesucht.

Die Hersteller haben sich auch auf andere Bedürfnisse Ihrer neuen Klientel eingestellt. Spielkonsolen bieten nicht mehr nur Spaßerlebnisse zu Hause. Sie vermitteln Lebensgefühl und haben Eventcharakter. Verkaufsstarts werden mit großen abendlichen Fernsehshows begleitet, Generationenübergreifende Stars werden zu so genannten Lauch Partys geladen. Und der Käufer darf, wenn er sich früh durch Vorbestellung als Community-Mitglied geoutet hat, sein Stück hochgezüchtete Technik um Mitternacht mit Gleichgesinnten im extra hierfür hergerichteten Media Markt vor den Fernsehkameras von MTV und NTV abholen. Nur neue Harry Potter Bände und vielleicht noch lokale Großereignisse schaffen es, Menschen zum nächtlichen großflächigen Einkauf zu bewegen. Wer dazu gehören will, macht mit. Und wer dabei war, erzählt es gerne weiter. Wie nach der Rückkehr von einer aufregenden Reise – virtuelles Fotoalbum im Internet mit der Trophäe zwischen den Regalen im Media Markt inklusive.

Das Dabeisein wird die Zukunft bestimmen. Wing Commander war auf dem PC ein Hit, weil es als erstes versuchte, professionelle filmische Elemente in ein Spiel zu integrieren. Filmumsetzungen hingegen waren von ihrer spielerischen und Erlebnisqualität auf PC und Konsole überwiegend Totalausfälle. Auch dieses Blatt hat sich gewandelt. James Bond, Harry Potter und vor allem King Kong zeigen, dass in Zukunft das Spiel zum Film nicht mehr nur kurzfristiges Merchandising sein wird. Die Grenzen verwischen. War der Wing Commander Film damals nur etwas für Trashfans, machen sich nun bekannte Studios und Regisseure an Filme zu Spielen wie Doom, Tomb Raider und nächstes Jahr Halo. Wird in wenigen Jahren der Film nur die Zweitverwertung eines Multimedia-Spiels sein, für die, die zu faul zum Selberspielen waren? Undenkbar ist es nicht.
Den größten Umbruch verheißt die Onlinefähigkeit. Segas Dreamcast war 1998 mit seinem Modem noch ein Exot. Aktuelle Neuerscheinungen bei den tragbaren Konsolen wie Nintendo DS und PSP sind selbstverständlich mit einem Zugang ins Internet ausgestattet. Die Xbox 360 nun setzt dem vorerst die Krone auf. Die Weiterentwicklung von Xbox Live geht weit über das schnöde Fernduell hinaus. Nutzer haben stets im Blick, was gerade von Freunden gespielt wird und welcher Level schon erreicht wurde. Das Spielen wird zum medialen Ereignis, bei dem man auch einfach nur anderen zuschauen kann. Schon vor Xbox Live waren Videostreams von Weltmeisterschaften auf Game Conventions begehrt. Die ersten Fernsehübertragungen sind nur noch eine Frage der Zeit.

Das kollektive multimediale Erlebnis, bisher eine Domäne der Großkinos und Fußballstadien, zieht ins Wohnzimmer ein und bringt die Interaktivität mit. Für Film und Fußball ist es selbstverständlich, dass sich Konsumenten jenseits der 25 für sie begeistern. Konsolenspiele sind noch auf dem Weg dahin. Weit ist er nicht mehr. Die Zeiten des einfachen DVD oder HD/BlueRay-Abspieler sind gezählt. Spätestens Xbox 720 und Playstation4 werden flächendeckend ihren Platz einnehmen. In Japan appellieren schon heute Regierungen an die Spielehersteller, Neuerscheinungen nur am Wochenende herauszubringen, um die Gesamtwirtschaft durch fernbleibende Arbeitnehmer nicht zu gefährden. Auch in Deutschland wird es nicht das letzte frühe Aufstehen für den Wachmann gewesen sein, vielleicht in wenigen Jahren sogar ohne Einteilung zum Dienst.